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Reformationsfeier des Evangelisch-reformierten Forums St. Gallen
vom Sonntag, 4. November 2002 in der Kirche St. Laurenzen

BEKENNEND ODER VERKANNT?

ZWÖLF THESEN ZUM KÜNFTIGEN PROFIL DER REFORMIERTEN

 
 

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  1. Die Reformierten werden eine durchs Wort qualifizierte und durchs Wort qualifizierende gesellschaftliche Minderheit.
  2. Erinnerung und Anverwandlung, die dialektische Verantwortung des Neuen vor dem Alten, wird die kulturelle Leistung der Kirche für sich und die Welt sein.
  3. Nicht durch Befriedigung der Massen sondern durch Rückgewinnung der Eliten wird es Entwicklung in der Kirche geben.
  4. Die Kirche wird nicht mehr allen alles, sondern einer theologisch verantworteten Menge von special interest groups etwas sein.
  5. Die biblisch gegebenen und gesellschaftlich auch gefragten Angebote der Kirche werden sich beschränken auf qualifizierte Zeit, Nähe und Deutung.
  6. Nur in der riskanten und schuldbewussten Balance von Auftrag und Nachfrage wird die Kirche am religiösen Markt teil-haben können.
  7. Grundlage einer reformierten Profilierung nach innen und aussen wird die Erneuerung der Bundestheologie sein.
  8. Ihre gesellschaftliche Plausibilität wird die Kirche durch ihre Integrationsarbeit erlangen.
  9. Die Landeskirche baut auf den Kirchgemeinden auf, wird aber mehr als die Summe ihrer Kirchgemeinden werden.
  10. Mündigkeit aller wird nur durch die Pflege einer offenen und verbindlichen, verantwortlichen und undelegierbaren Sprache des Glaubens möglich werden.
  11. Ohne die Entwicklung und Pflege einer reformierten, nämlich intellektuell geläuterten Spiritualität wird es kein Gemeindeleben geben.
  12. Die Kirche der Zukunft wird eine bekennende Kirche sein oder als verkannte Kirche im gesellschaftlichen Ghetto verkümmern.
 
     

BEKENNEND ODER VERKANNT?

ZWÖLF THESEN ZUM KÜNFTIGEN PROFIL DER REFORMIERTEN

Nein, ich bin kein Prophet,
erhebe auch keinen Anspruch drauf,
habe nicht mal Träume und Visionen,
und die Geister Zwinglis oder Calvins beschwören zu wollen,
da sei der arme König Saul vor.
Nein, liebe Mitglieder des Forums,
ich bin ein gewöhnlicher Theologe,
Amateurreformierter und Amateurschweizer zumal,
doch einer mit Leidenschaft für Theologie und Kirche.
Ein Buchprojekt über "Die Reformierten" habe ich geleitet
und dabei einige reformierte Einsichten gewonnen,
das "Theologische Sekretariat" der Zürcherkirche betreue ich
und habe mit der neuen Kirchenordnung zu tun.
Herkunft und Zukunft sind zur Zeit mein Thema.
Wohl deshalb haben Sie mich gefragt,
durfte ich gerade mit Ihrem Präsidenten speisen
(es war köstlich,)
und darf ich hier auf dieser Kanzel eine reformierte Rede halten
(möge Sie Ihnen bekommen).
Aber ich bin als Privatmann hier,
Matthias Krieg aus Stäfa am Zürichsee,
und was ich sage, fragt nicht nach political correctness,
ist vielleicht gewagt und eigenwillig,
übertrieben und sonderbar vielleicht,
manchmal schräg, quer, spitz.
Aber kirchlich befinde ich mich ja im befreundeten Ausland,
und das hat zwei typisch helvetische Vorteile:
für mich, dass meine Oberen es nicht hören
und für Sie, dass Sie jederzeit feststellen dürfen,
das Gesagte gelte wohl für Zürich.

[nach oben zu den 12 Thesen]

 

Erste These

Die Reformierten werden eine durchs Wort qualifizierte und durchs Wort qualifizierende gesellschaftliche Minderheit.
Wir haben nur "das Wort".
Wir sind "die nach Gottes Wort reformierte Kirche".
Uns ist auch nichts heilig ausser Gott und dem "Wort von Gott".
Keine Tempelruinen würden bleiben,
wenn wir mal nicht mehr wären,
keine heiligen Rollen, keine heiligen Roben, kein heiliger Ruf,
weder Weihrauchfass noch Hüftgelenk,
nicht Kreuzesnagel noch Heiligenschein,
auch keine Legende würde sich willig ranken
um das selige Gedenken einer reformierten Landeskirche.
So nüchtern sind wir,
so sehr haben wir die bilderseligen Kulte ausgeräuchert,
auf den Boden geholt und aufs Wesentliche reduziert,
dass wir, nähme man uns beim Wort,
vergingen wie die Blume des Feldes.
Wir haben nur "das Wort".
Es qualifiziert uns als "die Reformierten",
denn das war ja unser Beitrag zur Renaissance der Antike:
die Wiedergeburt der ganzen Bibel fürs ganze Volk,
ungekürzt und unverlesen, zugänglich und volkssprachlich,
für Frauen und Männer, zu jeder Zeit und an jedem Ort.
Unsere Pfarrerinnen und Pfarrer sind "verbi divini ministri",
Dienerinnen und Diener des Wortes von Gott,
in keines anderen Herren, auch keiner anderen Herrin Dienst.
In unserer Predigt, wenn ihr das Wort von Gott zugrundeliegt,
ist der Heilige Geist präsent,
und keine Magie, kein Mirakel, keine Monstranz
kann den Moment heiliger machen als Gott,
der sich durchs Wort unserm Herz und Hirn zu verstehen gibt.
Diese Qualität ist geschenkt und sichert sich selbst.
Sie ist es, die uns qualifiziert, indem sie uns kritisch macht:
Das ist doch die besondere Qualifikation der Reformierten:
Das Wort macht uns kritisch im Ideologischen und Religiösen.
Was immer da Macht und Unterwerfung beansprucht,
sei es politisch, sei es ökonomisch, sei es klerikal,
Macht und Unterwerfung, die nur ein Gott verlangen kann,
das erfährt öffentlich Widerspruch und Widerstand:
Keine Staatsräson, kein Marktgesetz, kein Lehramt
dürfen an Gottes Stelle treten.
Was immer da Gottesnähe und Selbstvergöttlichung verspricht,
fromme Verschmelzung und religiösen Rausch,
gerät unter den Verdacht, Verwechslungen aufzusitzen:
Zeit und Ewigkeit, Gott und Mensch sind zweierlei,
unvermischt und ungetrennt, wie die Alten es formulierten.
Gott ist unser Vorbehalt gegen den Gotteswahn des Menschen:
Sein "Wörtlein kann ihn fällen".
Der Allmächtige, weil er auch der Ohnmächtige ist,
ist der einzige Allmächtige, der einzige:
Sein "Wort sie sollen lassen stahn".
Das Wort von Gott,
einst von den Reformatoren in seiner Souveränität entdeckt,
ist ein kritisches Ferment,
jetzt von uns Reformierten in unseren Kontexten zu verantworten.
Religion ist keine Privatsache.
Das Wort ist öffentlich.
Mit ihm sollen wir qualifizierend wirken,
für eine Gesellschaft ohne ideologischen und religiösen Wahn.
Und das kann gesellschaftliche Folgen zeitigen,
wie reformierte Minderheiten es weltweit zeigen,
ob Sklaverei oder Apartheid, Bildung oder Gesundheit.
Ich vermute,
wir Schweizer Reformierte werden zur Minderheit werden,
als qualifizierte und qualifizierende aber mit guten Aussichten.


[nach oben zu den 12 Thesen]  

 

Zweite These

Erinnerung und Anverwandlung, die dialektische Verantwortung des Neuen vor dem Alten,
wird die kulturelle Leistung der Kirche für sich und die Welt sein.
Als Angehörige der Konsumgesellschaft sind wir es gewohnt:
Das neue Waschmittel ist besser als das alte,
ein neues Automodell bietet mehr als das vorherige,
und nichts ist so alt wie eine Zeitung von gestern.
Täglicher Konsum hat uns aufs Neue konditioniert.
Als Teilnehmer in der Erlebnisgesellschaft erfahren wir:
Nichts ist schaler als eine Wiederholung,
mit immer neuen Feriendestinationen grasen wir die Welt ab,
und einschlägige Magazine liefern uns trends, hits und musts.
Tägliche Mobilität hat uns auf Neuigkeitswerte trainiert.
Was ist und wird, besteht aus "bad news" und "good news".
Neu und Alt sind längst dasselbe wie In und Out.
Neues ersetzt Altes.
Das Neueste ist der Feind des Neueren und der Tod des Neuen.
Ständig leben wir "in novissimis", im "Allerneuesten",
um das Wort der Dogmatik für das Ende der Zeiten zu bemühen.
Dementsprechend wird Altes schnell vergessen
und sinkt die Halbwertszeit des Gedächtnisses:
aus den Augen, aus dem Sinn, was war.
Mitglieder der Wegwerfgesellschaft sind wir.
Nicht nur Waren, auch Werte und Wörter werden weggeworfen.
Das "Wort" und die "Bibel",
“Kirche", "Bildung", "Verantwortung":
Wir bemühen längst verfallene und weggeworfene Wörter.
Wir führen das Lexikon der Unwörter.
Alles gestrig. Alles out. Forget it!
Aber wir ahnen,
dass dies kapitalkompatible Verständnis von Alt und Neu
nicht alles sein kann.
In der Welt der Waren ersetzt das Neue ein Altes.
In der Welt des Verstehens wandelt sich Altes in Neues.
Erinnerung und Anverwandlung sind die Vorgänge dafür,
das Alte erinnernd hereinzuholen in die Gegenwart,
es unter ihren Bedingungen anverwandelnd neu zu denken
und daraus ein Neues werden zu lassen.
Dialektik ist der Name für diesen kreativen Vorgang.
Kirche und Kultur teilen sich dasselbe Boot,
inzwischen wohl ein kleines, eine Nussschale nur:
Sie müssen das Neue stets vor dem Alten verantworten.
Neues wird erst aus Erinnerung und Anverwandlung geboren.
Hat die erste, die kapitalisierte Moderne alles zur Ware gemacht,
die zweite, die individualisierte Moderne alles zur Wahl gestellt,
so wird, denke ich, eine Zeit kommen,
wo das Neue nicht mehr Ware ist und zur Wahl steht,
sondern nach den Zwängen der "schönen neuen Welt"
die uralte Kunst des Erinnerns und Anverwandelns gefragt ist.
Wir Reformierte sollten diese Kunst besonders beherrschen,
denn Traditionen haben wir, jedoch keine,
deren Heiligkeit sie uns unantastbar macht,
und beispielhafte Ereignisse haben wir, aber keine,
die uns als normative Idealzustände binden könnten.
Wir sind als ecclesia reformata auch die semper reformanda.
Ich vermute,
unsere reformierte Kompetenz, im gegebenen Kontext
durch Erinnerung und Anverwandlung
Neues aus Altem zu gewinnen,
wird, wenn wir sie pflegen, bald einmal sehr gefragt sein.

[nach oben zu den 12 Thesen]

 

Dritte These

Nicht durch Befriedigung der Massen sondern durch Rückgewin-nung der Eliten wird es Entwicklung in der Kirche geben.
Wir sind einem neuen Buchtitel zufolge eine "Bluffgesellschaft".
Zum Konsumieren, Erleben, Wegwerfen nun noch das Bluffen.
Ob das stimmt?
Ob damit ein Mehrheitsverhalten charakterisiert werden kann?
Mehr Interesse an Wirkung als an Wahrheit,
würde das bedeuten,
mehr die Frage nach dem Wohl als nach dem Heil,
mehr Orientierung an Affekten und Effekten als an der Existenz,
liesse sich schliessen aus diesen vier Tätigkeiten der Masse.
Wahr wäre, was allen gefällt, nicht, was mich unbedingt angeht.
Wie auch immer,
ein Schielen nach der Zufriedenheit der Masse,
ein verschämtes Kokettieren mit dem, was "in" ist,
eine harmlose Californisierung unserer Anlässe zu "events",
das hat auch die Kirche ergriffen.
Doch dabei sehen wir erst recht hoffnungslos alt aus:
eine reichlich gesetzte Dame beim "breakdance".
Ist auch unsere Sache nicht, meine ich.
Kirche ist ihrem Wesen nach elitär.
“Ekklesia", das sind wörtlich die "Herausgerufenen".
“Elite", das sind wörtlich die "Auserlesenen".
Nie, nirgends, zu keiner Zeit war Kirche eine Massenbewegung.
Die "Staatskirche" war politische Willkür,
die "Volkskirche" ist eine missionarische Option,
die "Landeskirche" bleibt eine kybernetisch strittige Struktur.
Das Herausrufen und Auslesen aber tut Gott durch sein Wort.
Elite in diesem Sinne hat nichts mit Dünkel oder Einbildung,
nichts mit Besserwisserei oder Arroganz zu tun.
Kirche ist die Elite derer, die aufs Wort von Gott hören,
und das war und ist nicht die Masse.
Die real existierende Kirche braucht aber auch Eliten:
Wie in jeder anderen Gemeinschaft sind es auch in ihr
die Eliten, die sie voranbringen und weiterentwickeln,
die Eliten, die provozieren und inspirieren und innovieren.
Nicht eine Elite allein, nein, Eliten aus allen Bereichen:
Wir brauchen je nach Kirchgemeinde und Region die Eliten
der Bauernschaft, des Handwerks, der Industrie,
der Politik, der Wissenschaft, der Kultur
und was immer sonst gesellschaftliche Verantwortung hat.
Viele dieser Eliten sind, ich wage es zu behaupten,
längst und mehrheitlich aus unseren Kirchen ausgewandert,
mindestens aber in die innere Emigration gegangen.
Mission heisst heute zuerst,
die Eliten der Gesellschaft für die Elite des Wortes zu gewinnen.
Die reformierten Eliten waren und sind es,
die den reformierten Wagen zogen und ziehen.
Ohne sie gibt es Stillstand und Rückschritt,
keine Entwicklung ohne Eliten, Avantgardes, Schrittmacher.
Ich vermute,
unsere Kirchen werden mit der Anbiederung an die Massen
nur weiter und tiefer in die Entfremdung gehen,
während sie mit der Wiedergewinnung der Eliten
echte Chancen zur Erneuerung und Entwicklung hätten.

[nach oben zu den 12 Thesen]

 

Vierte These

Die Kirche wird nicht mehr allen alles, sondern einer theologisch verantworteten Menge von special interest groups etwas sein.
Der Begriff der "Volkskirche" schillert.
Für Theologinnen und Theologen bezeichnet er die Vision,
das ganze Volk des Landes werde auch das "Volk Gottes" sein,
für Organisationsberaterinnen und Qualitätssicherer die Option,
“Kirche für das Volk" veranstalten zu sollen.
Im Volk aber meint man beharrlich,
der Begriff beschreibe einen Zustand,
sei also deskriptiv und quantitativ zu verstehen,
und dann kann es sich ja nur um einen Schwindel handeln,
um eine willkürliche Interpretation der jährlichen Statistiken,
etwa ebenso missverständlich wie der Begriff "Gewinnwarnung".
Kommt dann noch der Charakter der Institution hinzu,
der zählebige Anspruch, eigentlich ja ein Monopol zu betreiben,
in Wahrheit Alleinanbieterin zu sein im Revier des Religiösen,
selbstverständlich und unhinterfragbar,
so braut sich ein typisch nachklerikales Phänomen zusammen:
Was die Kirche anbietet,
muss immer für alle gleich gut sein.
Etwas zu unternehmen, was einige Teile ausschliesst,
darf nicht sein, ist böse und verwerflich.
Doch derlei Denken stimmt nicht.
Das ist klerikaler Wahn.
Was stimmt, ist die alte Weisheit,
dass niemandem etwas bieten wird,
wer allen alles bieten will.
Unter den beiden Grundbedingungen der Moderne,
der Individualisierung und der Funktionalisierung des Lebens,
kann es nur ohne Gesicht und Profil zugehen, langweilig und lau,
eben unspezifisch und allgemein,
wenn nicht gewählt wird.
Wählen ist der Zwang der Moderne,
das einzige, was selber nicht gewählt werden kann.
Und wählen muss auch die Kirche:
ihr Kirchenrat bei der Diskussion möglicher Legislaturziele,
ihre Gesamtkirchlichen Dienste bei der Setzung von Jahreszielen,
ihre Kirchenpflegen bei der Schwerpunktfindung der Finanzen.
Alle aber haben wir dabei eine theologische Verantwortung.
Nicht eigene Willkür sondern das Wort von Gott,
nicht persönliches Profil sondern das Heil der Menschen,
nicht politisches Kalkül sondern der Auftrag der Kirche,
das sind die verantwortlichen Kriterien der Wahl.
Die Menge der Zielgruppen muss theologisch bestimmt sein,
die Wahl der "special interest groups" vor Gott verantwortet.
Eigentlich sollte uns Reformierten dies leicht fallen,
denn wir, die "Religion prétendue reformée",
wie Ludwig der Vierzehnte die Hugenotten verspottete,
wir, "die angeblich reformierte Religion",
wir sind ja selbst eine "special interest group":
Das Wort ist unsere Spezialität,
wo nicht, da behält der Sonnenkönig Recht.
Ich vermute,
wir werden in einer allseits offeneren Welt,
in der das Kompetitive längst das Territoriale dominiert,
der Wettbewerb des Marktes die Einflussbereiche des Amts,
nur für "special interest groups" etwas bieten können.

[nach oben zu den 12 Thesen]

 

Fünfte These

Die biblisch gegebenen und gesellschaftlich auch gefragten Angebote der Kirche werden sich beschränken auf qualifizierte Zeit, qualifizierte Nähe und qualifizierte Deutung.
Auch die Kirchen restrukturieren.
Das "new public management" segnet sogar Kirchengefilde.
Was früher die "Sprache Kanaans" war,
ist heute zuweilen die "Sprache Sankt Gallens".
“Was bieten Sie denn eigentlich an? Was sind Ihre Produkte?"
waren die ersten Fragen in der Zürcher Restrukturierung.
Ich fand die Fragen gut,
doch Antworten fand ich damals nicht.
Heute pflege ich zu antworten: Zeit, Nähe und Deutung.
Das sind die Angebote, von mir aus die "Produkte" der Kirche.
Was ist qualifizierte Zeit?
Zeit ist heute das wertvollste und umstrittenste Gut,
und der Umgang mit der Zeit die schwierigste Anforderung.
Zeit ist entweder, was man nicht hat, oder, wenn doch, vertreibt.
Zwischen Zeitmangel und Zeitvertreib liegt die qualifizierte Zeit:
eine entschleunigte und verlangsamte Zeit,
die gelegentliche und passagere Zeit der Geistesgegenwart
Zeitinseln der Ruhe und Stille, der retraite und des time-out.
Kirche bietet und gestaltet "Zeit in der Zeit".
Was ist qualifizierte Nähe?
Nähe ist heute das umworbenste und malträtierteste Gut.
Nähe, die real ist und nicht virtuell,
original und nicht durch irgendein Medium vermittelt,
Nähe, die diskursiv ist und nicht monologisch,
offen und nicht durch irgendeinen Ablauf inszeniert,
existentielle Nähe von Angesicht zu Angesicht,
Nähe aus erster Hand also ist selten.
“Gleich und gleich gesellt sich gern",
ist nicht das Leitmotiv kirchlich gestalteter Nähe sondern:
“Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat".
Kirche bietet und gestaltet "Nähe zwischen Subjekten".
Was ist qualifizierte Deutung?
Deutung ist heute ein sich selbst entwertendes Überangebot.
Wir haben, scheint mir, eine Inflation an Erklärungen,
weil wir auch eine Inflation an Informationen haben.
Das Heer der Deuter, Erklärer, auch Vereinfacher ist riesig,
und es wächst mit dem Berg der Neuigkeiten.
Jemand muss ihn ja abtragen, jemand das Viele bewältigen.
Eine Dienstleistung, die manch einer sehr teuer bezahlt.
Wir haben da allemal den unbezahlbaren Vorteil,
dass unsere Deutungen mit Orientierung zu tun haben,
und die ist gegeben wie der Aufgang der Sonne.
Erinnerung und Anverwandlung ergeben qualifizierte Deutung.
Kirche bietet und gestaltet "orientierte Deutung".
Hier sehe ich unser "Kerngeschäft" und unsere "Bonität".
Und alle drei sind wertvoll: selten wie eine gute Antiquität.
Und alle drei sind teuer: mit Geld nicht zu bezahlen.
Und alle drei sind nachhaltig: die Anlagefonds der Existenz.
Qualifizierte Zeit, qualifizierte Nähe, qualifizierte Deutung,
diese drei.
Ich vermute,
wir haben mit ihnen Nischen im Markt zu füllen,
und reformierte Positionen zu halten,
nach denen unsere Zeitgenossenschaft auch fragt.

[nach oben zu den 12 Thesen]

 

Sechste These

Nur in der riskanten und schuldbewussten Balance von Auftrag und Nachfrage wird die Kirche am religiösen Markt teilhaben können.
Längst haben wir keine Wahl mehr:
Wir sind als Kirchen Teilnehmerinnen am religiösen Markt.
Das Kompetitive hat das Territoriale überlagert.
Man kann das bedauern und verletzt sich so nur selbst.
Man darf sich aber auch an Jesus oder Paulus erinnern
oder an den riesigen religiösen Markt der Spätantike,
auf dem die secta Christianorum einen kleinen Stand hatte.
Längst sind wir ein Schweizer Sonderfall:
Im grossen Weltbund der reformierten Kirchen
sind unsere Kirchen die Ausnahmen.
Alle anderen stehen im Wettbewerb der Konfessionen,
die Mehrheit gar im Wettbewerb der Religionen.
So ist es eigentlich keine neue Erscheinung,
vielmehr eine uralte Anforderung:
die Balance zu halten
zwischen dem Auftrag, den das Wort von Gott erteilt, und
der Nachfrage, in der sich das Bedürfnis des Menschen äussert.
Wieder eine Dialektik und kein Entweder-Oder.
Wieder eine spezifisch reformierte Kompetenz:
den Auftrag der Bibel und den Kontext der Zeit zu achten
aus der theologisch-kritischen Sichtung beider
ein geklärtes "Ja, ja" oder "Nein, nein" zu gewinnen.
Die Balance ist immer riskant und prekär.
Ohne Schuld kommt hier niemand davon.
Ich vermute,
unsere Angebote gewinnen Profil,
wenn diese kritische Balance ihr Gütesiegel wird.

[nach oben zu den 12 Thesen]

 

Siebte These

Grundlage einer reformierten Profilierung nach innen und aussen wird die Erneuerung der Bundestheologie sein.
Wie die Bibel in beiden Testamenten vom Bund berichtet,
von dem zwischen Gott und seinem alten und neuen Volk,
von denen zwischen Familien, Sippen, Stämmen, Völkern,
so nahmen die Reformierten das Modell des Bundes auf.
Warum?
Seit dem Ende der Flut ist der Bund ein göttliches Versprechen,
wer die Schöpfung bewahrt,
nämlich allein Gott durch seinen Bund,
und wie die Welt für den Menschen bewohnbar bleibt,
nämlich durch viele Bünde als Abbilder des einen Urbilds.
Seit den ältesten Zeiten Israels ist der Bund ein Modell,
wie Segmente verschiedener Grösse, aber gleichen Ranges
in Frieden nebeneinander und miteinander leben können.
Die segmentäre Gesellschaft der Gleichen
hält Frieden und schafft Sicherheit durch Bundesschlüsse,
familial strukturiert, mit flacher Hierarchie, vordemokratisch.
Die Reformierten waren es,
die sich auf dieses biblische Modell des Lebens besannen:
in der Bundestheologie der Niederländer und Deutschen,
in den "covenants" der Presbyterianer Schottlands,
im "Mayflower Compact" der Puritaner Neuenglands,
im Völkerrecht des Hugo Grotius,
in politischen Verträgen, Verfassungen, Konstitutionen,
auch im "Contrat social" des Jean-Jacques Rousseau.
Wir verbinden, sind verbindlich, regeln Verbindlichkeiten.
Wir sind ein Bund, schliessen Bündnisse, fördern Verbundenheit.
Historisches, Politisches und Theologisches durchdringen sich,
foedus und confoederatio, Bundestheologie und Bundesstaat.
Doch der Gewinn, wenn er nicht bewusst wird,
wird schleichend zum Verlust.
Von Saul heisst es nach seiner Wahl zum ersten König,
er sei wie alle anderen nach Hause gegangen,
“und mit ihm die Tapferen, denen Gott das Herz gerührt" hätte,
doch bereits hätten "einige Nichtswürdige" abschätzig gefragt,
“Was kann der uns helfen?"
und hätten ihn "verachtet" und ihm nichts geschenkt.
So ist das bei den Segmentären und Föderalen:
Sie sind akephal und herrschaftsfeindlich,
misstrauisch gegen Obere, gegen Grinde, Köpfe, Häupter.
Wer ihn zu hoch hebt, bekommt eins drauf, aber subito.
Da schenkt man sich nichts.
Dieser Reflex sitzt tief,
auch in der Kirche, wie mir scheint.
Ich meine, wir müssten dringend wieder bundesfähig werden,
zwischen Kirchgemeinden, Regionen, Landeskirchen,
zwischen Behördenschaften und Berufsgruppen,
zwischen theologischen Fakultäten und kirchlichen Behörden.
Ich meine, wir brauchten dringend einen neuen contrat social,
der uns Reformierte untereinander und nach innen sichert,
uns auf ein gemeinsames reformiertes Profil verpflichtet,
uns in Erinnerung und Anverwandlung zukunftsfähig macht.
Solange wir Reformierte uns untereinander nichts schenken,
haben wir auch nach aussen nichts zu geben.
Wer nicht bundesfähig sein will,
macht sich schnell zur "quantité negligeable".
Ich vermute,
wir werden eine desto willkommenere Partnerin nach aussen,
je bundesfähiger wir nach innen werden.

[nach oben zu den 12 Thesen]

 

Achte These

Ihre gesellschaftliche Plausibilität wird die Kirche durch ihre In-tegrationsarbeit erlangen.
Integrieren heisst verbinden.
Verbindlich sein und Verbundenheit wahren heisst Integration.
Gemeinde Jesu Christi kann gerade deshalb integrieren,
weil in ihr nicht die Gleichgesinnten und Gleichbetroffenen,
nicht die Lobbyisten und Pressure Groups und Trendsetter,
nicht die Erscheinungsbildner und Persönlichkeitsberater
das Sagen haben.
Nicht irgendein partikulares Interesse integriert hier,
sondern allein das Wort von Gott.
Ich vermute,
dass Integrationsarbeit ohne Eigeninteresse
und an Orten ohne Rücksichten auf andere Interessen
gesellschaftlich ein besonderer Wert bleiben wird.

[nach oben zu den 12 Thesen]

 

Neunte These

Die Landeskirche baut auf den Kirchgemeinden auf, wird aber mehr als die Summe ihrer Kirchgemeinden werden.
Von Zürich her wird bald einmal zu hören sein,
wie es um die Bundesfähigkeit der Segmentären steht, nämlich
erst in den Tönen bei der Entstehung der neuen Kirchenordnung
und dann in der Musik aus dem fertigen neuen Buch.
Bereits zeigen sich Misstöne aus grossen Tiefen.
Ein erster Misston liegt in der unbedachten Sprache:
Von der "Ebene der Kirchgemeinden" hört man reden,
und zwar im Unterschied zur "Ebene der Landeskirche".
Dies ist gleich doppelt falsch,
denn weder ist die Kirche ein Bauwerk mit ansteigenden Etagen,
als hätten wir einen Bischof, der im penthouse residierte,
noch kann der gesamtkirchliche Bereich "Landeskirche" heissen,
als wären die Kirchgemeinden nicht genauso die Landeskirche.
Richtig ist, dass alle zusammen die Landeskirche bilden,
die Ortsgemeinden und die gesamtkirchlichen Funktionen.
Ein zweiter Misston liegt im Kampf um die Kompetenzen:
Viele Gemeinden betonen die "Gemeindeautonomie"
und fordern die vom Staat freigegebenen Kompetenzen für sich,
während der Kirchenrat für gleiche Rechte und Pflichten aller
eine ordnungspolitische Kompetenz beansprucht.
Zweierlei wäre dabei gar nicht reformiert,
der Episkopalismus als Bischofskirche mit zuviel Mitte und
der Kongregationalismus als Gemeindebund ohne jede Mitte.
Richtig ist, dass Reformierte presbyterial-synodal gebaut sind,
wodurch das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.
Wieder eine Dialektik und kein Entweder-Oder.
Wieder eine spezifisch reformierte Kompetenz:
Die segmentäre Eigenständigkeit der Ortsgemeinden zu wahren,
indem der Ältestenrat viel Verantwortung erhält,
und die Bundesfähigkeit aller zu fordern,
indem synodale Gesandte der Gemeinden fürs Ganze denken.
So entsteht im ständigen Ausgleichen fortlaufend auch das Neue.
So ist weder das "Roma locuta causa finita" einer Bischofskirche noch das "Jekami" eines lockeren Gemeindebunds zu hören.
Ich vermute,
dass die künftige Solidität unserer reformierten Kirchen
abhängt von der Straffung und Profilierung der Synoden.

[nach oben zu den 12 Thesen]

 

Zehnte These

Mündigkeit aller wird nur durch die Pflege einer offenen und ver-bindlichen, verantwortlichen und undelegierbaren Sprache des Glaubens möglich werden.
Religiöse Mündigkeit aller Frauen und Männer,
eine von jedem Menschen selbst verantwortete Glaubenssprache,
das war das grosse Versprechen der Reformation.
Es ist weder eingelöst, noch ist es einlösbar,
es bleibt vielmehr die Aufgabe jeder neuen Generation.
Meine Generation hat sie bis anhin schlecht gelöst.
Warum?
Ich habe den Eindruck,
wir haben diese elementare und fundamentale Aufgabe,
eine zeitgenössische Sprache des Glaubens zu entwickeln,
gleich doppelt wegdelegiert,
einmal "nach oben" an die Theologie,
dass sie an unserer Statt über die Trinität doziere,
und ein andermal "nach unten" an die Fundamentalisten,
dass sie an unserer Statt vom Heiland Zeugnis ablegen.
Selbst aber sind wir sprachlos.
Verärgert über abstraktes Gezänk und fromme Salbaderei.
Beschämt, wenn uns jemand vor die Gretchenfrage stellt:
“Sag, wie hältst du's mit der Religion?"
Ich habe den Eindruck,
wir verraten damit die reformierte Reformation.
War das nicht ihre Hauptbotschaft:
Gott meint Dich , nicht Deinen Priester oder Bischof oder Papst.
Du kannst Deinen Glauben nicht in Stellvertretung schicken.
Du kannst Deinen Glauben und Dein Leben nicht delegieren.
Du bist wer: ein Selbst, eine Person, ein Individuum.
Du kannst hören und bist mündig,
kannst antworten und trägst Verantwortung.
Kein Vormund nimmt Dir Deinen Glauben ab.
So war es doch gemeint, oder?
Ich vermute,
wir tätigen selbst beim Risiko einiger Austritte
damit die beste Investition in die Zukunft unserer Kirchen,
dass wir vielfältige Möglichkeiten schaffen,
eine zeitgenössische Sprache des Glaubens zu pflegen.

[nach oben zu den 12 Thesen]

 

Elfte These

Ohne die Entwicklung und Pflege einer reformierten, nämlich in-tellektuell geläuterten Spiritualität wird es kein Gemeindeleben geben.
Selbstvergessenheit produziert Eigenclichés,
nachhaltige Falschmeldungen über sich selber.
Ein ebenso unausrottbares wie falsches der Theologen,
Spiritualität sei ein Modewort ohne theologische Bedeutung,
und ein ebenso unausrottbares wie falsches der Reformierten,
es gebe keine reformierte Spiritualität,
treffen sich fatal und hinterlassen abgründige Ratlosigkeit.
Was tun?
Sich zu informieren wäre das erste:
Calvin verwendete fleissig das Adjektiv "spirituell".
Der Genfer Psalter war das meistverkaufte Buch der Epoche.
Bibellektüre und Psalmengesang waren tägliche Übung.
Die Reformierten bildeten einen eigenen Zweig des Pietismus.
Die "Bibelstunde" war eine Entwicklung der "Stillen im Lande".
Die Schweiz, Frankreich, Schottland haben reformierte Konvente.
Nein, es gab und gibt sie, die reformierte Spiritualität,
religionskritisch und wortorientiert,
doch damit nicht weniger ganzheitlich und sinnlich.
Sie zu pflegen wäre das zweite:
Auch Spiritualität hat regionale und zeitgenössische Kontexte.
Auch sie ist von Erinnerung und Anverwandlung abhängig.
Auch sie spricht eine persönliche Sprache des Glaubens.
Und es kann ja wohl nicht wahr sein,
dass ein Reformierter Weltbund oder Schweizer Kirchenbund,
ein Sankt Galler oder Zürcher Kirchenrat,
oder gar ein gesamtkirchlicher Dienst
reformierte Spiritualität entwickeln und dekretieren sollten.
Nein, zu verordnen ist sie nicht mal bei den Katholiken,
aber zu ermöglichen und zu begrüssen,
zu nähren durch Ressourcen.
Ich vermute,
dass mehr Ressourcen für Spiritualität als für Gottesdienste
mehr Gemeindeleben und so auch mehr Gottesdienst ergäben.

[nach oben zu den 12 Thesen]

 

Zwölfte These

Die Kirche der Zukunft wird eine bekennende Kirche sein
oder als verkannte Kirche im gesellschaftlichen Ghetto verkümmern.
In zwölf Thesen wollte ich heute unterbringen,
was ich als reformierte Jüngerschaft Jesu von morgen sehe.
Die zwölfte bündelt die elf und gibt ihnen einen Rahmen:
Wir brauchen ein Bekenntnis.
Nicht, weil wir Schweizerkirchen weltweit die einzigen sind,
die als Reformierte ohne Übung des Bekennens sind.
Auch nicht, weil der grosse Schweizer Karl Barth,
der uns weder "bekenntnislos" noch "bekenntnisfrei" nannte,
uns schlicht als "bekenntnisschwach" bezeichnete.
Schon garnicht, weil wir anderen Kirchen nacheifern müssten,
die ihre Gläubigen mit alten und ältesten Texten traktieren.
Sondern weil wir einen "status confessionis" haben.
Nein, niemand schränkt uns ein oder verfolgt uns
wie einst die Reformierten Frankreichs, die Hugenotten.
dass wir vor der Flucht oder dem Martyrium stünden.
Nein, keine Ideologie ist übergriffig oder missbraucht uns
wie vor siebzig Jahren die Evangelischen Deutschlands,
dass wir deshalb eine Bekennende Kirche werden müssten.
Auch stehen wir nicht vor oder nach kirchlichen Fusionen
wie jüngst die amerikanischen Presbyterianer,
die 1991 ihr "Brief Statement of Faith" veröffentlichten.
Unser "Bekenntnisstand" ist nicht eklatant und spektakulär.
Aber ist eine Kirche, aus der man zwar nicht austritt,
von der aber über zwei Drittel nichts mehr erwarten,
ist eine Kirche, der wirklich Ausgetretene vorwerfen,
sie habe kein Profil, und alles oder nichts sei in ihr möglich,
ist eine Kirche, die vor Wahlen in ihre Behörden
um Kandidatinnen und Kandidaten betteln gehen muss,
ist eine solche Kirche, der
die Mitgliedschaft verdunstet, das Selbstbewusstsein verdampft,
der Identität und Profil schon garnicht mehr zugetraut werden,
nicht in Gefahr, in der Dekadenz, im "status confessionis"?
Aber nein, ich will es positiv sagen:
Wir Reformierte haben das Wort,
das uns qualifiziert und profiliert.
Und mit ihm haben wir etwas zu sagen,
etwas zu verlieren und etwas zu gewinnen.
Sogar eine Menge eigener Bekenntnisschriften haben wir,
eine Bekenntnistradition ohne Bekenntniszwang,
reiche Erfahrung mit aktuellem und kontextuellem Bekennen.
Wir sind gut ausgerüstet,
um Gottes Willen etwas Tapferes zu tun.
Tun wir's.
Wer nicht bekennt, wird verkannt.

Matthias Krieg

an der Reformationsfeier des Evangelisch-Reformierten Forums
4. November 2002 in der Kirche St. Laurenzen in Sankt Gallen